Der ganzheitliche Blick auf den Menschen ist einer der zentralsten Punkte, durch den sich die traditionelle chinesische Medizin von der westlichen abhebt. Speziell in der Diagnose unterscheiden sich beide Philosophien daher grundlegend.
Die TCM ist eine Erfahrungsmedizin, aus deren Sicht Körper, Geist und Seele im Menschen zusammenwirken. Da jeder von uns in ständiger Wechselwirkung mit seiner Umgebung und sich selbst steht, schaut sich die traditionelle chinesische Medizin ganz genau an, welche Ursachen für eine Störung des inneren Gleichgewichts und damit als Krankheitsauslöser in Frage kommen. Das können emotionale Faktoren ebenso sein wie äußere Einflüsse (Kälte, Wind,…) oder eine falsche Ernährung.
All das wird bei der TCM-Diagnose genau hinterfragt. Die Stärke der TCM liegt also darin, dass sie ihr Augenmerk nicht auf einzelne Symptome richtet, sondern immer auf den gesamten Menschen und dessen Organismus. Schon die Diagnose spiegelt das Verständnis der Zusammenhänge im Körper wider, und entsprechend diesem ganzheitlichen Denken werden in der anschließenden Therapie auch die Heilkräuter in der TCM anders eingesetzt.
In der westlichen Medizin hingegen geht es in erster Linie um die Betrachtung der Symptome. Die Ursache der Störung steht weit weniger im Zentrum.
TCM und Schulmedizin: Darin unterscheiden sie sich in der Diagnose
Die TCM versteht den Menschen als ein „vernetztes System“ und erfasst ihn in der Diagnose in all seinen psychischen wie körperlichen Facetten. Je nach Krankheit zeigen verschiedene Menschen zwar ähnliche Symptome. Behandelt werden sie in der TCM aber oft ganz unterschiedlich – abhängig von Typus, Umwelteinflüssen und anderen Faktoren. Denn die TCM versucht immer, der Ursache auf den Grund zu gehen. Im Vergleich dazu hat die Schulmedizin oft einen sehr eingeschränkten Blick auf das Problem und untersucht bei der Diagnostik meist „nur“ einzelne Organe oder Systeme.
Die Verwendung von Heilkräutern hat sowohl in der traditionellen chinesischen als auch in der traditionellen westlichen Medizin eine lange Tradition. Schon griechische und römische Ärzte der Antike, darunter der Pharmakologe Dioskurides (1. Jahrhundert n. Chr.), verfassten erste Kräuterbücher und hatten ein umfassendes Wissen in der Arzneimittellehre. Allein das Werk von Dioskurides besteht aus fünf Büchern und stellt über 1000 Monographien verschiedener Pflanzen dar.
Vieles von diesem Wissen ist im Westen jedoch im Laufe der Zeit verloren gegangen. Abgelöst wurde es von einem sehr analytischen Zugang zum Thema Heilpflanzen. Was in der Schulmedizin heute zählt, ist die experimentell bestätigte Wirkung. Und zwar nicht nur die Wirkung einer Pflanze in ihrer Gesamtheit, sondern die Wirkung der einzelnen Inhaltsstoffe einer Pflanze. Genau darin liegt auch der Unterschied zwischen der klassischen Heilpflanzentherapie und der Schulmedizin. Die traditionelle Heilpflanzenkunde verwendet immer die gesamte Pflanze. Die Schulmedizin jedoch nimmt sich einen Inhaltsstoff heraus und konzentriert sich voll und ganz auf dessen Wirkung.
Das ist auch einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen der modernen westlichen und traditionellen chinesischen Medizin. Die TCM hat im Grunde ganz ohne Forschung entdeckt, dass eine bestimmte Pflanze, beispielsweise der Beifuß, bei fieberhaften Erkrankungen und Fieberschüben sehr gut hilft. Die westliche Medizin wollte genau ergründen, warum diese Pflanze wirkt. Die Inhaltsstoffe wurden analysiert und man fand heraus, dass Artemisinin dafür verantwortlich sein könnte. Noch heute zählen Artemisinine zu den wirksamsten Malariamitteln.
Isolierte Wirkstoffe versus Kombination mehrerer Heilpflanzen
Kennzeichen der Schulmedizin ist also, dass man versucht, einen Wirkstoff zu identifizieren, zu isolieren und so eine bestimmte Erkrankung ganz gezielt zu behandeln.
Das Grundprinzip einer chinesischen Rezeptur ist jedoch ein völlig anderes. Denn die hohe Kunst der chinesischen Arzneimitteltherapie liegt im geschickten Kombinieren einzelner Heilpflanzen miteinander, wobei immer die gesamte Heilpflanze verwendet wird. Bei den Anwendungen geht man davon aus, dass die einzelnen Heilpflanzen synergetisch wirken.
Tipp: Warum die TCM als sanftere Medizin gilt und welche Rolle Heilpflanzen dabei spielen
Die Schulmedizin versucht, aus einer Hauptarznei einen bestimmten Wirkstoff zu isolieren und mit dessen Hilfe eine bestimme Erkrankung in den Griff zu bekommen. In den meisten Fällen gelingt dies auch. Doch dadurch kommt es mitunter zu Nebenwirkungen, die meist nicht auftreten, wenn man – wie in der TCM – die gesamte Pflanze verwendet.
Warum ist das so? Isolierte Wirkstoffe reagieren viel stärker im Körper, da sie wesentlich konzentrierter vorliegen, als im Vielstoffgemisch der gesamten Pflanze. Mit einer Zunahme der Dosis erhöht sich dabei das Risiko für Nebenwirkungen. Ein anderer Grund könnte aber auch sein, dass ausgleichende Inhaltsstoffe (mit denen sich die Pflanze selbst schützt) durch die Isolierung von nur einem Wirkstoff wegfallen. Zur Veranschaulichung hier ein Beispiel: Stark wirksame Inhaltsstoffe dienen der Pflanze oftmals als sogenanntes Fraßgift, also zum Schutz vor Insektenbefall. Damit die Pflanze nicht selbst daran zugrunde geht, gleichen andere Inhaltsstoffe diese Giftstoffe aus. Lässt man in der medizinischen Anwendung diese ausgleichenden Inhaltsstoffe weg, können so möglicher Weise Nebenwirkungen auftreten.
Die in der traditionellen chinesischen Medizin verwendeten Arzneimittel werden für den Patienten stets individuell und je nach Beschwerdebild zusammengestellt. Natürlich werden auch in der TCM akute Symptome zuerst gelindert. Hat ein Patient hohes Fieber, wird dieses zuerst gesenkt. Doch direkt im Anschluss geht es darum, die eigentlichen Ursachen des Symptoms zu behandeln.
Das Besondere dabei ist, dass die chinesische Kräuterheilkunde auch Faktoren wie persönliche Lebens- und Essgewohnheiten, emotionale Befindlichkeiten, Umweltbedingungen und konstitutionelle Gegebenheiten berücksichtigt. Darauf basierend wird ein individueller Therapieplan erstellt, der im Verlauf der Zeit immer wieder angepasst wird.
Hierin liegt ein weiterer großer Unterschied zwischen westlicher und chinesischer Sichtweise: In der klassischen Schulmedizin wird eine bestimmte Erkrankung immer mit der gleichen Medizin therapiert. Chinesische Kräuterrezepturen hingegen sind höchst individuell.
Bei einem Schnupfen beispielsweise greift die Schulmedizin zu einer klassischen Symptombehandlung zurück. Als Standardtherapie werden meist Nasensprays, schleimlösenden Mitteln und bei Kopfschmerzen und Fieber Aspirin & Co verschrieben. In der TCM hingegeben schaut sich der Arzt genau an, welche Ursachen den Schnupfen ausgelöst haben. Das kann unter anderem das Eindringen von Kälte oder Hitze in den Körper sein. Je nach Ursache wird der Patient daher unterschiedlich behandelt und bekommt eine auf ihn abgestimmte Rezeptur.
Tipp: Warum Sie die Wirkung der Kräuter nicht unterschätzen dürfen
Die Heilpflanzentherapie gilt zwar als sehr sanfte Medizin. Doch das bedeutet nicht, dass sämtliche Arzneipflanzen völlig unbedenklich bzw. je nach Belieben verwendet werden können. Wer die heilenden Kräfte der Natur nutzen will, muss gut informiert sein und die Wirkung der einzelnen Inhaltsstoffe der Pflanze genau kennen. Vertrauen Sie daher unbedingt auf die Empfehlung bzw. Dosierung eines fachkundigen Arztes oder Apothekers.
Auch wenn die traditionelle chinesische und die europäische Sichtweise bzw. Anwendung von Heilpflanzen grundverschiedenen Philosophien folgen, haben beide ihre Berechtigung. In der Therapie können sie sich sogar sehr gut ergänzen. Denn in der westlichen Heilpflanzenkunde gibt es zwar noch das Wissen um die Anwendung von Arzneipflanzen. Was jedoch zu großen Teilen verloren gegangen ist, ist die ganzheitliche Sicht auf den Menschen und das Bemühen darum, dem Auslöser bzw. den Auslösern einer Erkrankung auf den Grund zu gehen. Genau dieser weiter gefasste Blickwinkel verändert nicht nur die Diagnose, sondern auch die Anwendung der Heilpflanzen in der anschließenden Therapie.
Als Alternative zur modernen, westlichen „Maschinen-Diagnose“ vertrauen daher viele Menschen auf das Wissen der Traditionellen Chinesischen Medizin. Diese gibt sich nicht mit der Behandlung von Symptomen zufrieden, sondern will jeder Erkrankung bzw. Disharmonie auf den Grund gehen und das Übel bei der Wurzel packen.